Quelle: Zeitschrift "Lebens (t) räume" Heft 01/2006

Atmen als Lebenskunst

Wir tun es tagein, tagaus, unser Leben lang, wir atmen. Aber nichts ist uns gleichzeitig so unbewusst, wie eben dieser Atemvorgang. Dabei schlummert im Atem eine Lebensquelle ungeahnten Ausmaßes. Prof. Ilse Middendorf hat in mehr als sechzig Jahren Erfahrung und Leben mit und aus dem Atem eine Methode entwickelt, die den Atem als ganzheitlichen Wegbegleiter sieht und deren Arbeitsweisen ganzheitlich ausgerichtet sind. Der Name, "Erfahrbarer Atem", zeigt gleich worauf es bei dieser Arbeit ankommt - die Erfahrung. Wer seinen Atem als Leitseil (Zitat Ilse Middendorf) in die Hände nimmt, begibt sich auf seinen ganz individuellen Wachstums- und Entwicklungsweg.

Drei Atemweisen sind voneinander abzugrenzen:

  • unbewusster Atem
  • willentlich geführter Atem
  • Erfahrbarer Atem (EA)


Der unbewusste Atem ist unser Alltagsatem. Dieses autonome Atemgeschehen lässt den Atem frei und ist uns dabei in der Regel nicht bewusst. Der willentlich geführte Atem wird eingesetzt um ein bestimmtes Ziel zu erreichen und hebt ihn dabei in das Bewusstsein des Menschen. Dies wird z.B. bei den Pranayama-Übungen des Yoga oder im Rebirthing angewandt. Der Erfahrbare Atem lässt dem Atem sein freies Spiel, begleitet ihn aber ganz bewusst.

Das Freilassen des Atems ist entscheidend, da nur hier die Selbstheilungskräfte, die dem Atem immanent sind, zur Entfaltung kommen können.


Beobachten wir z.B. einen Säugling oder eine Katze beim Atmen, werden wir feststellen, das der Einatem den gesamten Körper weitet und im Ausatem alles wieder zurückschwingt. Nehmen sie sich nun einen Augenblick Zeit und sammeln sie sich darauf, ihren Atem zu empfinden. Wo und wie können sie ihre Atembewegung spüren? Vielleicht wird sie die Feststellung verwundern, dass sie ihren Atem z.B. nur im Bauch oder im oberen Brustbereich wahrnehmen können, oder das ihr Atemn ganz gehetzt und flach ist. Was ist hier anders als beim Säugling? Sowohl der Säugling als auch die Katze sind noch mit ihrem atmenden Urrhythmus verbunden. Das heißt, ihre Körper sind frei von muskulären Verspannungen und Festhaltungen. Zwerchfell und Beckenboden können im Ein- und Ausatem locker mitschwingen und somit die Atemwelle über den gesamten Körper verteilen.

Die frei durchschwingende Bewegung des Einatems dehnt auf sanfte Weise alle Muskeln und lässt sie im Ausatem wieder zurück schwingen. Die Bauchorgane werden massiert, die Durchblutung wird gefördert und die Nervenbahnen sind in einem guten leitfähigen Zustand. Der Körper ist durchlässig für den Atem und vom Kopf bis zu den Füßen optimal mit Sauerstoff versorgt.

Die Realität eines Erwachsenen sieht anders aus.


Schon in der Kindheit sind wir Einflüssen ausgesetzt, die uns prägen. Ängste, Verlassenheitsgefühle und andere Emotionen, die nicht verarbeitet werden können, münden in Schutzmechanismen und Verhaltensmustern, die unser späteres Leben beeinflussen. Der Stress in der Arbeitswelt und evtl. auch in der Familie tragen ein Übriges dazu bei. Die Menschen sind einer Flut von Emotionen (Ärger, Ängste, Wut und Trauer usw.) ausgesetzt, für deren Verarbeitung in unserer schelllebigen Zeit keine Zeit mehr ist.

Der Atem reagiert wie ein Seismograph auf unsere Lebensumstände.


Durch unangenehme Erlebnisse wird der Atem gehetzt, er ist kurz und flach, es stockt uns der Atem, die Brust wird eng, der Ausatem kann nicht gehen, wir bekommen keine Luft. Andererseits werden wir weit und frei im Atem, weil wir uns gerade freuen und lachen. Der Atem reagiert also auf jegliche Bewegung unseres Daseins, er versucht mitzuschwingen und auszugleichen.

In der Regel können Stress und Emotionen weder ausagiert noch verarbeitet werden. Die dafür freigesetzten Kräfte werden im Körper gebunden und kommen somit nicht zur Entladung. Es kommt zu Verspannungen, Festhaltungen und psychosomatischen Beschwerden, bis hin zu Krankheiten. Hier trifft dann der unbewusste Atem auf Strukturen, die er alleine nicht mehr in der Lage ist auszugleichen. Die Lebensmuster haben sich im Körper manifestiert und gleichzeitig die entsprechenden Atemmuster erzeugt. An dieser Stelle setzt die Arbeit mit dem Erfahrbaren Atem ein.

Wesentliche Wirkweisen des Erfahrbaren Atem (EA) sind, den Menschen wieder seinem ursprünglichen Atemrhythmus anzunähern und ihn an seine Selbstheilungskräfte anzuschließen.


Dies geschieht dadurch, dass sich die im Lebensverlauf manifestierten Atem- und Verhaltensmuster langsam auflösen können. Die dadurch freiwerdenen Kräfte und auch geistig-, psychischen Erkenntnisse, stehen dem Menschen wieder zur Verfügung und können ganzheitliche Wandlungen bewirken.

Wie das Wort "erfahrbar" schon aussagt, kann man sich diese Fornm der Atemtherapie nur erschließen, wenn man sich auf sie einlässt. Es geht nicht darum die Wirkweise des Atems mit dem Verstand zu begreifen, sondern sie mit Körper, Seele und Geist zu erfahren.

Deshalb wird gerade zu Beginn das Empfindungsbewusstsein geschult, d.h., der Übende lernt seinen Leib (beseelter Körper) und seinen Atem zu empfinden. Das Nervensystem, über das die Empfindung erst möglich wird, ist intensiv angesprochen. Ist die leibliche Empfindungsfähigkeit gewachsen, wird die Aufmerksamkeit mehr auf die Atemempfindung gelenkt. Wo spüre ich meinen Atem, wie empfinde ich seine Bewegung im Leib, welche Qualität hat der Atem usw..

Atem ist elementare Bewegung - Atem ist Leben.
Ilse Middendorf


Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Erfahrung des Loslassens. Wenn zugelassen werden kann, dass sich muskuläre Verspannungen lösen, d.h. in diesem Bereich ist Bereitschaft da, die Kontrolle aufzugeben, wirkt sich das auch auf die seelische Ebene aus und man lernt wieder, Vertrauen zu schöpfen und Wandlung zuzulassen. Es ist wichtig, dass der Übende sich mit wachem Bewusstsein und hingebend auf seinen Atem und Leib sammelt, damit die Tiefen der Atem- und Leibempfindungen erspürt werden können. Sammlung richtet einen weichen Fokus auf eine bestimmt Leibregion, wobei der gesamte Rest auch weiterhin in der schwebenden Wahrnehmeung bleibt. Die Fähigkeit zur Sammlung wächst mit zunehmender Übung. Diese Sammlungsfähigkeit gepaart mit der Atem- und Leibempfindung, hält den Übenden im gegenwärtigen Augenblick, im Hier und Jetzt. Dies ist wesentlich, damit Wandlungsprozesse greifen können. Es entsteht eine Freiheit, sich die durch die Arbeit am Atem bewusst gewordenen Erkenntnisse -unbeeinflusst von Verhaltensmustern der Vergangenheit, unabhängig von projizierten Zunkunftsängsten und frei von Bewertungen- zu betrachten und für eine Transformation freizugeben.

Der Umgang mit dem EA ist allerdings nicht so kompliziert, wie man vielleicht nach den vorausgehenden Ausführungen vermuten könnte.


Im Gegenteil, die Atemarbeit ist sogar sehr einfach, wenn man bereit ist sich darauf einzulassen. Sie führt, sozusagen als Nebenprodukt, zu Wohlgefühl, Entspannung und innerer Ruhe aus eigener Kraft. Es gibt zwei Settings, die Gruppenarbeit und die Einzelbehandlung, das sog. Atemgespräch.

Im Rahmen der Gruppenarbeit werden sanfte Dehnungs- und Bewegungsübungen angeleitet, die den Körper öffnen für eine freie Atembewegung. Im begleitenden Bewusstsein wird immer wieder ein Satz von Ilse Middendorf gehalten:

"Wir lassen den Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt."


Hierin liegt das Wesentliche, festzustellen, dass man den Atem weder einziehen, noch festhalten oder wegstoßen muß. Das Geheimnis liegt darin, die Kontrolle aufzugeben und lernen loszulasen. Dann ist der Atem frei und kann den Menschen in der Tiefe mit seinem Unbewussten verbinden. Darin liegen das Potential und die Chance für einen individuellen Wachstumsprozess.

Weitere Schwerpunkte in der Gruppenarbeit sind die Druckpunkt- und die Vokalraumarbeit sowie die Bewegung aus dem Atem. Die Druckpunktarbeit macht sich zunutze, dass Druck auf eine ausgewählte Körperstelle eine Resonanz in einem bestimmten Körperbereich spürbar werden lässt. Dieser Körperbereich tritt ins Empfindungsbewusstsein und der Atem hat die Möglichkeit, sich dort zu entfalten. In der Vokalraumarbeit werden Vokale und auch Konsonanten still und laut getönt. Den Vokalen liegt die Gesetzmäßigkeit zugrunde, dass jeder Vokal in einer speziellen Körperregion seinen Vokalraum bildet, der deutlich in die Empfindung treten kann. Aus diesem Vokalraum steigt der Ton empor, der von der inneren Bewegtheit getragen ist. Diese Vokalräume entfalten besondere psychische Qualitäten in uns, die z.B. auch im Alltag wunderbar als unauffällige Hilfestellungen genutzt werden können. Generell kann man in der Arbeit mit dem EA sehr viele Möglichkeiten für Entlastungen und Hilfen im Alltag finden. Sei es z.B. der verspannte Nacken, der schmerzende Rücken, Nervosität und Unruhe oder der flache Atem im oberen Brustbereich. Der EA kann sich auch erleichternd bei Atemwegserkrankungen, wie z.B. Asthma auswirken. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass der EA keine medizinische Heilmethode ist und auch nicht krankheitsorientiert arbeitet. Sofern sich Krankheitsbilder positiv verändern oder sogar auflösen, sind dies wunderbare Geschenke, die einzig auf die durch den Atem geförderten Selbstheilungskräfte des Körpers zurückzuführen sind.

Es ist nicht das ursächliche Anliegen des EA, Krankheiten zu heilen, sondern den Menschen in seine Eigenverantwortung zurückzuführen, einen Wachstumsprozess in Gang zu setzen und diesen zu begleiten.


Als letzter Themenbereich innerhalb der Gruppenarbeit ist noch die Bewegung aus dem Atem anzusprechen. Sie kann nur nach einer längeren Zeit des Übens erfahren werden. Voraussetzung ist, dass der Atem völlig frei kommen und gehen kann. Ist dies der Fall, begibt man sich in Bewegungen, die vom Atem initiiert sind. Der Bereich im Leib, der atmend empfunden wird, setzt die Bewegung an und fließt in der Atembewegung mit. Die Bewegungen die entstehen, kommen aus den Tiefen unseres Seins und die Botschaften, die darin aufleuchten, können für eine positive Lebens(um)gestaltung genutzt werden.

Im Üben am Atem und an der Bewegung wird Freigabe zur Freiheit.
Ilse Middendorf


In der geschützten Atmosphäre einer Einzelbehandlung liegt der Klient bekleidet auf einer Liege. Die Behandlerin stimmt sich auf die Atem- und Leibsituation des Liegenden ein, mit der Intention, Atem und Mensch in seiner Tiefe zu erreichen. Soweit es zugelassen werden kann, wird sie den Atem locken, fördern und schützen und ihn auf seinem Weg durch den Leib begleiten. Dies geschieht durch eine Vielzahl von Griffangeboten, die der Behandlerin zur Verfügung stehen, Empathie und Intuition. Damit die Behandlung wirklich zu einem Atemgespräch werden kann, ist eine beidseitige Präsenz erforderlich. Anwesend in ihrem Leib und in ihren Händen, geht die Behandlerin in den Kontakt mit dem Liegenden und spricht auf dieser taktilen Ebene dessen Atem an. Soweit es ihm möglich ist, versucht der Liegende seinen Atem und seinen Leib in der angesprochenen Region zu empfinden. Die Reaktion des Atems gibt der Behandlerin die Antwort auf ihre taktile Anfrage. So wird das Atemgespräch zu einem Prozess, der eine wunderbare Eigendynamik enfalten kann.

Atem ist die führende Kraft in uns, Atem ist Urgrund und Rhythmus des Lebens, Atem - ein Weg zum Sein.
Ilse Middendorf


Aber im Vordergrund stehen immer die Eigenverantwortung und das eigene Maß des Menschen. Es schwingen immer die Fragen mit, willst du es zulassen, kannst du loslassen oder fühlst du dich besser in einem vorübergehenden Rückzug. Der Atem erzwingt nichts, er klopft an und wenn ihm aufgetan wird, erobert er auf sanfte Weise.

Der Erfahrbare Atem ist ein Weg, der ähnlich spiritueller Praktiken, über längere Zeit beschritten werden sollte, damit tief greifende Wirkungen möglich werden können.


Letztlich kann man sagen, dass der Erfahrbare Atem in seinem innersten Wesen eine spirituelle Arbeit ist, denn was bringt den Menschen dem Göttlichen näher als sein Atem. Durch den Atem sind die Menschen mit Gott, der Natur und miteinander verbunden. Wer bereit ist diesen Weg zu beschreiten und den Atem als sein Leitseil zu wählen, für den kann der Atem zur Kunst, ja zur Lebenskunst werden.

Lioba Olbermann
www.freie-atemwelle.de

Kontaktadressen im Internet:
www.erfahrbarer-atem.de
www.atem-beam.de

Literaturempfehlungen:
Ilse Middendorf, Der Erfahrbare Atem, Junfermann-Verlag
Magdalena Unger, Die Angst bändigen, souverän bleiben, Beltz Verlag

Über die Autorin:
Lioba Olbermann ist Atemtherapeutin des Erfahrbaren Atems. Kontaktadresse: Praxis für Atem- und Körperbewusstsein, Lioba Olbermann, Heinrich-Krumm-Str. 17, 63073 Offenbach, Tel.: (069) 40 89 78 65, www.freie-atemwelle.de

 

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